Reformkleider – die andere Mode der Belle Époque

In den letzten Wochen und Monaten sind sie mir immer wieder begegnet. In Büchern, Ausstellungen und alten Zeitschriften fand ich sie, ohne sie gesucht zu haben, die Reformkleider. Grund genug mich einmal etwas ausführlicher damit zu beschäftigen was so ein Reformkleid eigentlich ist, wie es entstanden ist. Auch die Frage in wieweit es vielleicht bis heute nachwirkt, dieses zunächst eigenartig anmutende Kleidungsstück, das man vor allem mit dem Jugendstil in Verbindung bringt, stellt man sich unweigerlich, wenn man die Bilder sieht.
Und wenn man dann ein wenig tiefer ins Thema eintaucht, dann bemerkt man, dass dieses Reformkleid nicht nur für Frauen erdacht wurde, sondern dass es auch für Männer Reformkleidung gab. Es muss also mehr dahinterstecken, als nur eine abgedrehte Modeidee einiger weniger Künstler:innen, allen voran des belgischen Alleskönners Henry van de Velde, der Frauen passend zur Innendekoration der von ihm entworfenen Räume einkleidete.
Und da Mode, wie man an den Strümpfen sah, eh so eines meiner Lieblingsthemen ist, bin ich einmal auf die Suche nach der Geschichte des Reformkleides gegangen.

Damenmode 1788
Bad-Bekleidung 1788 – so sah in diesem Jahr die herrschende Damenmode aus. Dies hier ist übrigens eine Robe à Gorge Angloise. Kein Wunder also, dass Dr. Zwierlein andere Bekleidung vorschlug – Bild aus: Journal des Luxus und der Moden Juni 1788, S. 290

Weg mit dem Korsett

Die Forderung „weg mit dem Korsett“ war ausgangs des 19. Jahrhunderts keinesfalls eine neue Forderung. Schon im 18. Jahrhundert hatten insbesondere Badeärzte diese Forderung erhoben.
Vor allem der Brunnenarzt Conrad Anton Zwierlein (1755-1825) aus Bad Brückenau hatte sich 1788 mit der Forderung an die Öffentlichkeit gewandt und versucht zumindest für die Zeit des Kuraufenthalts eine Bad-Uniform für Damen entwickeln zu lassen, die sie vom Korsett befreite.
„Die Gründe, die Zwierlein für seinen Vorschlag hatte, waren einleuchtend, denn zum einen brauchten die Damen morgens ewig um sich anzuziehen und kamen so nicht dazu zum Beispiel spazieren zu gehen, was der Badearzt aber für dringend notwendig hielt, damit die Kur auch erfolgreich sei. Zum anderen bemerkte Zwierlein, dass die eng geschnürten Korsetts der Damen dazu führten, dass sie kaum atmen könnten und schon bei leichter Bewegung zu schwitzen begönnen, was natürlich auch nicht im Sinne einer Kur sein konnte zu der auch zumindest „leichte Bewegung“ gehörte.“ [Zitat aus: „Die Bad-Uniform für Damen – eine Geschichte und ihre Fortsetzung“]
Als dann ausgangs des 19. Jahrhunderts immer mehr Frauen ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und in Fabriken, Büros, Krankenhäusern und vielen weiteren Bereichen arbeiteten, da war spätestens klar, dass es einer anderen Kleidung dringend bedurfte und das krankmachende und einschnürende Korsett verschwinden musste.
Es war vor allem die sog. Lebensreformbewegung, die nicht nur aus gesundheitlichen, sondern auch aus emanzipatorischen Gründen eine neue Kleidung forderte.

Theo Van Rysselberghe (1862-1926) - Mevrouw Henry Van de Velde-Sèthe (1921) - Reformkleider
Marie-Louise Sèthe-van de Velde Bild: Theo van Rysselberghe (1862-1926) – 1921 Public Domain, via Wikimedia Commons

Jugendstil und Reformkleider

Der Jugendstil war die große Zeit der Reform, und mit dieser Reform war nicht allein die Kunst gemeint, sondern das ganze Leben, einschließlich der Kleidung.
Zahlreiche Künstler:innen des Jugendstils standen auch der Lebensreformbewegung nahe und so verwundert es nicht, dass gerade sie sich der Kreation dieser neuen Kleider annahmen.
Besonders für Furore sorgte das Reformkleid à la van de Velde. Bereits Mitte der 1890er Jahre hatte Henry van de Velde (1863-1957) gemeinsam mit seiner Frau Marie-Louise Sèthe (1867-1947) begonnen Damen- und Kinderbekleidung in neuem Stil und vorzugsweise ohne Korsett zu entwerfen.
Insbesondere in seiner Weimarer Zeit entwarf er zahlreiche Kleider.
Aber nicht nur van de Velde und seine Frau, auch andere Künstler:innen des Jugendstils widmeten sich dem Entwurf von Reformkleidern, die schnell unter dem Begriff Künstlerkleider bekannt wurden. In Deutschland waren es vor allem Anna Muthesius (1870-1961) und Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), die zu den Trägern dieser künstlerischen Kleiderreform wurden.

Bloomers Reformkleid mit Hose, 1850
Bloomers Reformkleid mit Hose, 1850 Bild: gemeinfrei

Ein Kleid mit Hosenbeinen

Angefangen aber hatte diese neue Reformbewegung in den USA und in England und nicht etwa nur mit der Forderung nach dem Ende der Korsetts, sondern mit dem Wunsch nach Hosen, denn nur die machten Frauen wirklich frei und ermöglichten ihnen den neuen Alltag zu bewältigen und auch Sport zu treiben.
1856 wurde – sinnigerweise von einem Mann, nämlich James Caleb Jackson (1811–1895) – die National Dress Reform Association gegründet. Unterstützt wurde sie vom Victorian dress reform movement, dass sich im Zuge der Frauenbewegung in England verbreitet hatte.
In diesen Jahren entstanden auch bereits die ersten Schriften, die sich für die besondere Art der Reformkleider: Frauenhosen stark machten. So schrieb etwa die Engländerin Roxey Ann Caplin (1793-1888), die selber Korsettmacherin war 1856 das Buch „Health and Beauty, or, Woman and Her Clothing“.  Hier ging sie ausführlich auf die Gesundheitsschäden ein, die Frauen durch falsches und zu enges Schnüren von Korsetten erlitten.
Schon zuvor hatte Amelia Jenks Bloomer (1818-1894) das sog. Bloomer-Kostüm entworfen. Es kam ohne Korsett aus und bestand aus einem eng geschnittenen Oberteil und einem in Falten gelegten, dicht unter dem Knie abschließenden Rock unter dem – und das war der Clou – eine Hose getragen wurde. Die Presse wollte gar nicht aufhören über dieses völlig neuartige Kleid zu berichten, die Frauenrechtlerinnen liebten es, doch alle andern hassten es und so war diesem ersten Entwurf von Bloomer kein dauerhafter Erfolg beschieden.
Einen neuen Blick auf Frauen in Hosen bekam die Welt vor allem durch den französischen Modeschöpfer Paul Poiret (1879-1944), der schon früh begann elegante und schicke Kleider zu schneidern, die auch ohne Korsett tragbar war und der sich außerdem die Freiheit nahm Frauen in Hosen zu kleiden und das nicht nur zum Radfahren.

Gustav Klimt und Emilie Flöge in Reformkleidern
Gustav Klimt und Emille Flöge in Reformkleidern
Bild: gemeinfrei via Wikimedia Commons

Reform der Kleider – nicht immer Emanzipation

Bis hierher könnte man den Eindruck gewinnen, als wäre es den Reformer:innen einzig um das Wohl vor allem der Frauen gegangen. Als hätte man ihnen die Korsetts wegnehmen und die Hosen anziehen wollen, um sie zu befreien, zu emanzipieren und sie gleichberechtigt neben die Männer zu stellen.
Bei den meisten Vertreter:innen der Kleiderreform und Reformkleider waren das wohl auch wirklich die hauptsächlichen Triebfedern. Aber es gab auch die anderen. Diese anderen waren in aller Regel Männer, die einem gewissen Flügel der Lebensreformbewegung zuzurechnen waren. Ihre Einstellung war eine völkisch-nationale auch antisemitische. Ihnen ging es bei der Reform der Frauenkleidung nicht darum die Frau von ihrem Korsett zu befreien, um ihr Gleichberechtigung zuteilwerden zu lassen. Diesen Männern – ein gutes Beispiel ist Heinrich Pudor (1865-1943) ging es um etwas ganz anderes. Ihm galt das Korsett als etwas Verruchtes. Korsetts waren Teil der Bekleidung von Prostituierten und genau deswegen sollte die „anständige deutsche“ Frau sie nicht tragen.

Der neue Schlupfzug-Anzug - Schauspieler Curt Hagen vom Stuttgarter Staatstheater - Reformkleider
Reformkleider für Männer –
Die neue Sachlichkeit in der Herrenmode ! Von der deutschen Gesellschaft für Reform der Männerkleidung wird ein neuer Anzug propagiert, welcher waschbar, ohne Knöpfe, Hosenträger, Strumpfhalter, Gürtel, Weste und ohne Kragen getragen wird. Der Anzug wird auch in Seide gearbeitet und kann so als Gesellschaftsanzug getragen werden. Der neue Schlupfzug-Anzug. Unser Bild zeigt den Erfinder und ersten Träger des neuen Reform-Anzuges, den Schauspieler Curt Hagen vom Stuttgarter Staatstheater.
Foto: Bundesarchiv, Bild 102-10305 / CC-BY-SA 3.0

Reformkleidung auch für Männer

Zwar trugen die Männer keine Korsetts, aber steife Kragen, Hüte und auch ansonsten nicht gerade wirklich bequeme Kleidung. Es machte also durchaus Sinn, gerade im Hinblick auf die neuen Tätigkeiten in der Industrie einen Blick auch auf die Kleidung von Männern zu werfen und sie an die neuen Erfordernisse des Alltags anzupassen.
Normalkleidung nannte der Erfinder sie, die Reformkleidung für Männer. Der Erfinder, das war Gustav Jäger (1832-1917), von seinen Zeitgenossen oft der Woll-Jäger genannt und das hat auch seinen guten Grund, denn seine „Normalkleidung“, die bestand aus Wolle. Dabei war Jäger offenbar ein geschäftstüchtiger und innovativer Mann, denn nachdem er in zahlreichen Schriften seine neue Art der männlichen Bekleidung erläutert und propagiert hatte, da ließ er sie dann – ganz konsequent – ab 1879 auch gleich in der Stuttgarter Wirkwarenfabrik Wilhelm Benger Söhne herstellen.
Die leichten und durchlässigen Stoffe der neuen Kleidung bestanden aus Wolle. Es war aber nicht die simple Schafwolle, die sich jede:r hätte leisten können, sondern eher Merino, Alpaca oder Kaschmir.
In Deutschland konnten mit dieser Kleidung nicht so sehr viele etwas anfangen. Einer der prominentesten Träger hier war Robert Bosch (1861-1942), der lange Zeit nur Normalkleidung trug.
Erfolg aber hatte die Firma vor allem in England und auch hier waren es vor allem Prominente und Reiche, die sich die Wollsachen des Herrn Jäger leisteten. Zu den Trägern gehörten u.a. Oscar Wilde (1854-1900), George Bernard Shaw (1856-1950), aber auch die Polarforscher Fridtjof Nansen (1861-1930), Robert Falcon Scott (1868-1912) und Edmund Hillary (1919-2008).
In Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr die Rede von der sogenannten Normalkleidung. In England sah das völlig anders aus und sieht es noch, denn in England produziert die Firma Jäger ihre Wollkleidung bis heute.
Auch Gustav Jäger ist übrigens von seinen Grundideen her kritisch zu sehen. Er war ohne Zweifel ein Militarist, der am liebsten „das ganze Volk“ in eine Militärkaserne gesteckt hätte. Ihm galt militärische Erziehung als Maßnahme zur „Volksgesundheit“.

Wieder einmal zeigt sich, dass man genauer hinschauen sollte und etwas, das positiv scheint, nicht immer von seiner Idee her auch positiv sein muss, das gilt auch für Reformkleider.

Reformkleider 1911
Reformkleider ohne Korsett zu tragen, 1911
Ladies’ fashion, dress in so-called reform style: a reaction against the unhealthy lacing up of the female body with a corset. 1911.
Bild: National Archiv Niederlande – gemeinfrei

Beitragsbild:
Reformkleider – Teekleid Inventarnummer: 61/78 Personen: Emmy Schoch-Leimbach (Hersteller), Emmy Schoch-Leimbach (Entwerfer) Herstellungsort: Karlsruhe Datierung: 1912-1913 Material: Seide, Batist, Seidenatlas Technik: Plattstich, Stickerei Länge: 108.5 cm (Rücken)
https://katalog.landesmuseum.de/object-new/DAE2777741C0317AE217D892492B6A44
Digitaler Katalog, Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Foto: Peter Gaul, CC0

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