#KultBlick zwischen Schlacke und Gold

Dies ist ein Beitrag zur Blogparade “Verloren und wiedergefunden – wie sieht dein Kulturblick aus? ” vom Archäologischen Museum Hamburg  in Zusammenarbeit mit Tanja Praske.
Mein erster Blick auf Kultur war ein goldener, wenn auch beinahe unmerklicher Blick auf Kultur: Es war jene Inschrift, die meine Mutter immer so gern zitierte und bis heute zitiert.
Jene Inschrift, die schon einen berühmten und weithin bekannten (leider schon längst verstorbenen) Opernsänger, den damals noch alle „Rudi“ nannten, beeindruckte, als er als junger Chortenor dieses Gebäude mit der Inschrift zum ersten Mal betrat.
In seinen Erinnerungen klingt dies übrigens so:

„Demutsvoll stand ich vor dem Musentempel und nahm noch einmal die Inschrift über dem Portal in mich auf, die ich schon von früheren Besuchen fast auswendig kannte:

Mit allen seinen Tiefen, seinen Höhen
rollt sich das Leben ab vor Deinem Blick.
Wenn Du das große Spiel der Welt gesehen,
so kehrst Du reicher in Dich selbst zurück.

Feierlichkeit erfüllte mich. Es war, als beträte ich eine Kirche, ein Heiligtum.“ 1

Soweit der „alte“ Rudolf über die Empfindungen des jungen „Rudi“. Mir geht es übrigens bis heute ganz ähnlich, wenn ich vor diesem Tempel der Musen stehe oder ihn betrete: Es hat etwas Feierliches, etwas Faszinierendes und weckt Entdeckergeist, Staunen und Neugier.
Im Grunde könnte ich meinen ganz persönlichen #KultBlick einfach mit diesen wenigen Worten auf den Punkt bringen: Faszination, Neugier, Respekt und immer auch ein wenig Erhabenheit. Das waren, ohne, dass ich es mit drei oder vier Jahren derart in Worte hätte fassen können, wohl schon damals meine Empfindungen und Gedanken wenn ich vor Theatern, Kirchen, Schlössern und Burgen stand, jenen Monumenten der Kultur.
Erste wirkliche Auseinandersetzungen und ein erstes Verstehen-Lernen von Kultur begann dann auch schon früh und mit großer Begeisterung: Schon in der Grundschule gab es regelmäßige Museumsbesuche und da wurde Geschichte, da wurde Archäologie und damit auch Kultur dann so richtig erfahrbar und auch schon einmal ganz handfest, wenn es etwa um die Herstellung von Pfeilspitzen aus Feuerstein ging. Scheinbar muss dabei ein bisschen Feuerstein in meinem Hirn gelandet sein und sich dort festgesetzt haben, denn ich war fortan ein etwas eigenartiges Kind:
Andere Kinder lasen „Hanni und Nanni“ oder die „5 Freunde“ – ich las die Reiseberichte Marco Polos und Biographien über Könige und Kaiser.
Andere Kinder wollten an Nord- und Ostsee oder auch an einen spanischen Strand zum Burgenbauen – ich wollte Burgen besichtigen und rekonstruieren.
Andere Kinder schrieben ihren Jahresaufsatz in Deutsch über ihr Haustier oder ihre Volleyballmannschaft – ich über die Ausgrabungen in Pompeii und Herculaneum.
Ich fürchte meine Eltern hatten es nicht leicht mit mir.

Schlacke als Kultur
Auch Schlacke kann ein Stück Kultur sein
Foto: A. Kircher-Kannemann, CC-by SA 4.0

#KultBlick von Menschen geprägt

Mein #KultBlick wurde, so merkt man, von Menschen geprägt, von Menschen, die meinen Weg kreuzten; teilweise real, teilweise auch nur übertragen oder virtuell.
Da war zum Beispiel dieser unglaubliche Archäologe, der eine große provinzialrömische Ausgrabung geleitet hatte und der mich bei meinen ersten Schritten am Museum an die Hand nahm und mich das Sehen, vor allem aber das Erspüren lehrte; der mir beibrachte, wie man Menschen (auch weniger Interessierten) Kultur und Geschichte näherbringt und dem ich bis heute dafür ausgesprochen dankbar bin, genau wie für sein Buch, das so anders mit Geschichte umgeht.
Da waren die Menschen auf dieser Ausgrabung auf der ich als Studentin gearbeitet habe und die den einen Teil meiner Überschrift begründet, denn durch diese Ausgrabung und die Menschen, die ich dort kennenlernte, habe ich gelernt, dass es manchmal Sinn macht auch Schlacke in Ehren zu halten und als Teil der Kultur zu betrachten; auch wenn ich offen gestehen muss, dass es nicht immer sehr erheiternd war wochenlang Fundtüten zu sortieren und zu beschriften, die nichts anderes enthielten als Glockengussschlacke. Aber diese Ausgrabung hat mir sicher auch einen der skurrilsten und gleichzeitig schönsten #KultBlicke meines Lebens geschenkt, als ich nämlich gemeinsam mit zwei anderen Menschen, die auf dieser Grabung arbeiteten und die mir einen kleinen Ovidband zum Geburtstag schenkten, eben jenen Geburtstag mit ihnen, dem Ovidband und einem Fläschchen Sekt in einer mittelalterlichen Kloake verbrachte (trotz Geburtstag durfte ja die Arbeit nicht einfach eingestellt werden). Eine Geschichte, die wir alle bis heute immer wieder gerne zum Besten geben.
Da war der Professor, der Althistoriker, der sich die Zeit nahm mit mir beinahe nächtelang über lateinischen Quellen zu brüten, dessen liebster Satz lautete: „Warmer Kopf studiert nicht gern“ und der mich lehrte die Schriftkultur mit anderen Augen zu sehen und auch zu erspüren und durch den ich lernte über den ein oder anderen Cicero-Text herzhaft lachen zu können.
Da war dieser andere Professor, Mediävist seines Zeichens, der mich die Akribie lehrte; der mir beibrachte die Erbsen im Kultursalat zu zählen und wie an einer Perlenschnur aneinanderzureihen, um einen neuen, einen vollständigeren Blick zu bekommen und der meinen Blick auch auf die Säulenheiligen, auf jene Randerscheinungen der Kulturwelt lenkte, die dennoch so viel Macht besassen.
Da war dieses Erlebnis im Ägyptischen Museum in Berlin, das damals noch in Charlottenburg war und in dem ich erstmals Nofretete begegnete. Klar, es war nur ihr Kopf, in Stein, aber angefühlt hat es sich wie eine echte Begegnung und ich stand (wirklich wahr: es gibt Zeugen dafür) zwei Stunden wie angewurzelt einige Meter von dieser Büste entfernt und versuchte dem zu lauschen was sie zu erzählen hat.
Da waren meine ersten Rundgänge durch den Schlosspark von Schwetzingen auf den Spuren des Kurfürsten Karl Theodor und seines (Garten-) Architekten Nicolas de Pigage: diese Wege, die man nicht bewusst gehen sollte mit einem Plan in der Hand, sondern einfach aus dem Bauch heraus und nach Gefühl, denn nur dann erschließt sich dieser Park wirklich. Auf einem dieser Rundgänge habe ich übrigens (meinem Bauch folgend) eine Skulptur in einem Gebüsch wiedergefunden, die verschollen schien.

Sonne am Apollo Tempel in Schwetzingen
Foto: A. Kircher-Kannemann, CC-by SA 4.0

Dann war da auch noch jener letzte Abend des Schillertheaters – das Ende einer Ära, das Ende von ganz viel Kultur und damit verbundener Geschichte. Jener Abend an dem ich nur zufällig dorthinein stolperte, weil ich zufällig kurze Zeit zuvor jemanden kennengelernt hatte, der in diesem Theater arbeitete. Es war ein trauriger Blick an jenem Abend, ein zorniger auch.
Ja, und da war dann noch dieser andere Professor, jener Frühneuzeitler, der mir beibrachte, dass man manchmal auch ein Märchen lesen muss, um sich einem kulturhistorischen Phänomen zu nähern und der genau wusste, dass Menschen Emotionen brauchen, um zu lernen und zu erinnern und der nicht zuletzt aus diesem Grund mit einer Kopie eines blutverschmierten Briefes ins Seminar kam und so erreichte, dass zumindest ich die Geschichte rund um die Pappenheimer nie vergessen werde.
Letztlich noch war da die Freundin, eine Opernsängerin, mit der ich immer gerne über Sänger und Musik diskutiere und die mich zu einem Hörexperiment anregte das mir klar machte warum sie immer „Angst“ hat um einen Tenor, den ich doch eigentlich so gut finde (ich spreche über José Carreras und sie hat übrigens vollkommen Recht, er hört sich im Vergleich wirklich nicht so gut an). Sollten Sie Lust an diesem Experiment haben, dann hören Sie sich einfach ein und das gleiche Lied einmal von José Carreras, einmal von Richard Tauber und einmal von Rudolf Schock an und bilden Sie sich selbst ein Urteil (sie können natürlich auch andere Sänger nehmen).
Zum guten Schluss bin da dann wohl ich, der Mensch, der durch all das geprägt dann auch andere prägte; jene Menschen denen ich Kultur und Geschichte näher brachte, die dann oftmals regelmäßig in meine Führungen kamen, um sich die Geschichten anzuhören, die ich zu erzählen hatte über jene Menschen der Vergangenheit, die ihre Spuren an diesem Ort hinterlassen hatten an dem ich damals arbeitete.
Kultur kommt eben nicht nur einfach so vom Lateinischen „cultura“ und bedeutet etwas, das von Menschenhand erschaffen oder doch zumindest verändert wurde, denn es braucht Menschen, um Kultur zu schaffen, genauso, wie es Menschen braucht, um Kultur zu vermitteln und den Blick auf sie zu richten und zu schärfen.

Alter Markt Duisburg
Alter Markt Duisburg
Foto: A. Kircher-Kannemann, CC-by SA 4.0

#KultBlick mit Emotion

Eins haben mich all diese Erlebnisse gelehrt und die Pädagogin in mir, die studierte Erziehungswissenschaftlerin, die gelernt hat, dass Emotionen das Lernen befördern und dass es einen wichtigen Zusammenhang gibt zwischen Kognition und Emotion, fühlt sich bestätigt.
Er lehrt mehr und er bleibt besser im Gedächtnis, jener #KultBlick, der auch mal lachen darf oder weinen, der sich aufregen darf oder auch freuen.
Aus all diesen Erlebnissen habe ich im Laufe der Jahre eine Menge mitgenommen und versuche Vieles von dem umzusetzen und so den Blick zu schärfen.
Der Blick auf Kultur, das ist für mich immer auch Faszination, das ist diese Neugier auf Menschen und auf das, was sie schaffen und geschaffen haben, auf ihre Sicht der Dinge und der Welt.
Eine Faszination und eine Neugier, die gerade uns Studierten übrigens allzu oft abhanden kommt und wo wir Gefahr laufen die Wissenschaft zum Selbstzweck werden zu lassen.
Irgendwie hab ich mir jetzt schon selbst eine Menge zu denken gegeben und eine Menge Verschüttetes wieder an die Oberfläche befördert. Es wird Zeit zu schließen und sich der letzten Kultur des Tages hinzugeben: Der Weinkultur und der Esskultur, bei der ich persönlich am liebsten die deutsche mit der französischen kombiniere (da hat dann wohl doch die Grandmère ihre kulturellen Spuren hinterlassen).
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1 Rudolf Schock: »Ach, ich hab in meinem Herzen …«, München-Berlin, 3. Aufl. 1985, S. 91f. Übrigens hat sich in dieses Schiller-Zitat ein Fehler eingeschlichen. Die Giebel-Inschrift, die aus Schillers “Huldigung der Schönen Künste” stammt lautet eigentlich: “Mit all seinen Tiefen, seinen Höhen roll ich das Leben ab vor deinem Blick. Wenn du das große Spiel der Welt gesehen, so kehrst du reicher in dich selbst zurück.”

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Dr. Anja Kircher-Kannemann
Dr. Anja Kircher-Kannemann

Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen

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