Kultur und Kulturgeschichte – Was ist das eigentlich?
Es gibt eine ungeheure Zahl an Kulturbegriffen und dementsprechend ist es auch schwierig zu entscheiden, was denn nun um Himmels Willen „Kulturgeschichte“ ist, zumindest abseits der schlichten und platten Aussage, dass „Kulturgeschichte“ nun einmal die Geschichte der Kultur ist; was uns ja nicht weiterbringt, so lange wir keine wirkliche Idee davon haben, was denn nun bitte schön „Kultur“ eigentlich ist.
Es ist erstaunlich wie oft wir im Alltag den Begriff „Kultur“, ob nun alleinstehend oder in sprachlichen Zusammenhängen, gebrauchen, ohne uns wirklich so richtig über diesen Begriff im Klaren zu sein. Diese Internetseite hier zum Beispiel heißt „Tour-de-Kultur“ und in einem ersten Artikel hatte ich bereits auf die Definition von „Kultur“ im Duden verwiesen, die da besagt, dass Kultur „die Gesamtheit der geistigen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, die ein Volk und/oder eine Epoche charakterisieren.“ bedeutet.
Ursprünglich stammt der Begriff „Kultur“, mit dem wir oft so sorg- und gedankenlos umgehen, wie so viele andere Begriffe aus dem Lateinischen. Cultura bedeutete hier „Pflege, Bearbeitung“ und stammte aus dem agrarischen Bereich. Der Ackerbau, die Bearbeitung und die Pflege der Erde, das war cultura.
Hieraus entwickelte sich die heute gängige Benutzung des Wortes „Kultur“, die alles meint, was der Mensch bearbeitet, gestaltet und hervorbringt. Damit ist also auch Technik eine Form der Kultur, ebenso wie Religion, Recht, Wirtschaft, jede Form der Wissenschaft, Sprache oder auch Musik.
Dabei stammt diese Benutzung des Begriffs „Kultur“ in der deutschen Sprache tatsächlich erst aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Erst zu diesem Zeitpunkt ist sie erstmal belegt und bezeichnete beide Facetten, sowohl die Bodenbewirtschaftung als auch die „Pflege der geistigen Güter“. Der landwirtschaftliche Bezug des Begriffs ist heute, nach nur wenigen Jahrhunderten, nur noch unterschwellig in Benutzung, etwa in Wendungen wie „Kulturland“ oder „Kultivierung“. Noch jünger ist übrigens das Adjektiv „kulturell“, es wurde erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich, hatte aber von vornherein im Grunde die Bedeutung des vom Menschen Geschaffenen.
Bevor jetzt insbesondere Althistoriker stutzen und denken ich hätte da doch die Geschichte des Begriffs ein wenig sehr verkürz dargestellt: Ja, die Benutzung des Wortes cultura für etwas, das nicht dem Ackerbau zufällt, gab es auch schon in der Antike; Cicero etwa sprach von der cultura animi und meinte die „Pflege des Geistes“. Eine Bedeutung, die auch bei Plinius zu finden ist.
Inhaltsverzeichnis
„Kultur ist Reichtum an Problemen“ – Egon Friedell
Bei der Vielfalt der Kulturbegriffe glaubt man diese Aussage Egon Friedells sofort. Schauen wir uns doch nur einmal die ganzen „Weltkulturerbe“ an und die Definition der UNESCO, die dahintersteht:
„Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“ [Weltkonferenz über Kulturpolitik. Schlussbericht der von der UNESCO vom 26. Juli bis 6. August 1982 in Mexiko-Stadt veranstalteten internationalen Konferenz. Hrsg. von der Deutschen UNESCO-Kommission. München 1983. (UNESCO-Konferenzberichte, Nr. 5), S. 121].
Über die Geschichte und die Entwicklung des Begriffs der „Kultur“ in der Neuzeit steht bei Wikipedia zu lesen:
„Immanuel Kants Bestimmung des Menschen als kulturschaffendes Wesen vollzieht sich im Verhältnis zur Natur. Für Kant sind Mensch und Kultur ein Endzweck der Natur. Dabei ist mit diesem Endzweck der Natur die moralische Fähigkeit des Menschen zum kategorischen Imperativ verbunden: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.‘ Ein solches allgemeines Gesetz anzuerkennen als ‚Idee der Moralität gehört noch zur Kultur.‘ Es ist dieser Leitsatz des moralischen Handelns, der den Menschen einerseits von der Natur trennt, andererseits steht er als Endziel der Natur in ihrem Dienst dieses Ziel zu achten und zu verfolgen. Ohne diesen moralischen Leitsatz vermag der Mensch sich bloß technologisch fortzuentwickeln, was zur Zivilisation führt.
Der Anthropologe Edward Tylor bestimmt Kultur 1871 (‚Primitive Culture‘) unter Aufnahme der darwinschen Evolutionstheorie und gibt so eine erste an den Erkenntnissen der Naturwissenschaft orientierte Definition: ‚Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinn ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.‘“
Damit beinhaltet „Kultur“ auch immer die Idee einer Höherentwicklung, einer Hierarchie und ermöglicht es sehr einfach andere „Kulturen“ als niederstehend, als minderwertig oder rückwärtsgewandt anzusehen und eben nicht nur als anders.
Kultur im Sinne des UNESCO
Angesichts dieser Möglichkeit machte es Sinn, dass die 129 Mitgliedsstaaten der UNESCO im August 1982 in einer „Weltkonferenz über Kulturpolitik“ eine Erklärung verabschiedeten, die eben jene Diffamierungsmöglichkeit ausschloss.
In den einleitenden Artikeln findet sich folgende Kulturdefinition:
„Kulturelle Identität:
- Jede Kultur repräsentiert eine einzigartige und unersetzliche Gesamtheit von Werten, da die Traditionen und Ausdrucksformen eines jeden Volkes das wirkungsvollste Mittel sind, seine Präsenz in der Welt zu beweisen.
- Deshalb trägt die Behauptung der kulturellen Identität zur Befreiung der Völker bei. Im Gegensatz dazu stellt jede Form von Dominanz eine Verleugnung oder Beeinträchtigung dieser Identität dar.
- Die kulturelle Identität ist eine reiche Quelle, die die Möglichkeiten der Menschheit belebt, sich selbst zu verwirklichen, indem sie jeden Menschen und jede Gruppe dazu führt, aus der Vergangenheit zu schöpfen, Einflüsse von außen aufzunehmen, die mit den eigenen Charakteristika vereinbar sind und auf diese Weise den Prozess seiner eigenen Erneuerung fortzuführen.
- Alle Kulturen sind Teil des gemeinsamen Erbes der Menschheit. Die kulturelle Identität eines Volkes wird durch den Kontakt mit den Traditionen und Wertvorstellungen von anderen erneuert und bereichert. Die Kultur ist der Dialog, der Austausch von Ideen und Erfahrungen und die Achtung anderer Werte und Traditionen; die Isolation lässt sie verfallen und absterben.
- Die Universalität kann nicht abstrakt von einer einzigen Kultur gefördert werden: sie entspringt aus den Erfahrungen aller Völker der Welt, von denen ein jedes seine eigene Identität bekräftigt. Kulturelle Identität und kulturelle Vielfalt sind untrennbar miteinander verbunden.
- Besondere Charakteristika behindern nicht die Teilhabe an den universellen Werten, die die Völker einen; sie bereichern sie eher. Von daher macht die Anerkennung des Vorhandenseins einer Vielzahl von kulturellen Werten in den Fällen, in denen verschiedene Traditionen nebeneinander existieren, das eigentliche Wesen des kulturellen Pluralismus.
- Die internationale Gemeinschaft sieht es als ihre Aufgabe an, sicherzustellen, dass die kulturelle Identität eines jeden Volkes erhalten und geschützt wird.
- All dies zeigt, dass eine Kulturpolitik erforderlich ist, die die kulturelle Identität und das kulturelle Erbe eines jeden Volkes schützt, anregt und bereichert, und dass es notwendig ist, den absoluten Respekt und die wirkliche Achtung von kulturellen Minderheiten und anderen Kulturen der Welt herzustellen. Die Vernachlässigung oder Zerstörung der Kultur irgendeiner Gruppe bedeutet für die gesamte Menschheit einen Verlust.
- Die Gleichheit und Würde aller Kulturen muss anerkannt werden ebenso wie das Recht eines jeden Volkes und jeder Kulturgemeinschaft, ihre kulturelle Identität zu behaupten und zu bewahren.“
Was ist also Kulturerbe
Das Kulturerbe definierte jene Konferenz dementsprechend wie folgt:
„23. Das Kulturerbe eines Volkes umfasst die Werke seiner Künstler, Architekten, Musiker, Schriftsteller und Wissenschaftler sowie die Arbeiten namentlich nicht bekannter Künstler, geistige Werke des Volkes und das Wertsystem, das dem Leben Bedeutung gibt. Dazu zählen gleichermaßen materiell greifbare und immaterielle Schöpfungen, durch die sich die Kreativität dieses Volkes ausdrückt: Sprachen, Riten, Glaubensrichtungen, historische Stätten und Monumente, Literatur, Kunstwerke, Archive und Büchereien.
24. Deshalb hat jedes Volk das Recht und die Pflicht, sein kulturelles Erbe zu verteidigen und zu erhalten, da die Gesellschaften sich selbst durch die Werte erkennen, die für sie eine Quelle der schöpferischen Inspiration darstellen.
25. Häufig wurde das Kulturerbe durch Gedankenlosigkeit oder im Verlaufe des Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesses und durch eine immer stärkere Technisierung beschädigt und zerstört. Aber noch unerträglicher ist der Schaden, der dem Kulturerbe durch den Kolonialismus, bewaffnete Konflikte, fremde Besetzung oder die Aufzwingung fremder Wertvorstellung droht. All dies führt dazu, dass die Bindungen eines Volkes zu seiner Vergangenheit zertrennt werden und die Erinnerung an sie ausgelöscht wird. Durch die Erhaltung und Achtung seines Kulturerbes wird einem Volk die Möglichkeit gegeben, seine Souveränität und Unabhängigkeit zu verteidigen und auf diese Weise seine kulturelle Identität zu bekräftigen und zu fördern.
26. Die Rückgabe von Kulturgut, das rechtswidrig aus den Ursprungsländern entfernt wurde, ist ein Grundprinzip der kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern. Vorhandene internationale Instrumente, Abkommen und Resolutionen könnten im Hinblick auf ihre Effizienz für dieses Vorhaben verstärkt werden.“
Jede Kultur und jedes „Werk“, jede „Idee“ und jedes „Gut“, dass Menschen hervorgebracht haben, ist also von gleichem Wert, der Darwinismus sollte aus der Kultur gestrichen werden. Eine positive Entwicklung auf dem Weg zu einer sinnvollen Kulturdefinition.
Fakt aber bleibt, dass der Begriff „Kultur“ zumindest in der deutschen Sprache in den letzten Jahren doch arg überstrapaziert wurde und somit im Grunde genommen eine „Sinnentleerung“ erfahren hat. Dies wird spätestens an den zahllosen Komposita deutlich, die mit „Kultur“ inzwischen gebildet werden, wie etwa „Fankultur“, „Esskultur“, „Diskussionskultur“, „Firmenkultur“, „Fußballkultur“ und vieles andere mehr und ja, auch ich habe mich an dieser Kompositabildung und der daraus folgenden Entleerung des Begriffs bereits beteiligt, indem ich einen Artikel zur „Willkommenskultur“ verfasst habe. Asche und kleine Steine auf mein Haupt. Ich gelobe Besserung!
Ansgar Nünning hat in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung aufgrund dieser inzwischen inflationären Benutzung des Begriffs „Kultur“ daher dafür plädiert, dass es besser sei von mehreren Kulturbegriffen zu sprechen, was dann allerdings auch wieder zu einer Inflation des Kulturbegriffs beiträgt und ein Verständnis des Begriffs nicht zwingend vereinfacht. Basis dieser Ansicht ist für ihn, dass im Grunde genommen jede Wissenschaftsdisziplin eh bereits ihre eigene Definition von „Kultur“ habe und auch verschiedene soziale Gruppen verschiedene Definitionen hätten.
Ein Fakt, der bereits angesprochen wurde und keinesfalls in Abrede gestellt werden kann. Die völlige Auflösung des Begriffs „Kultur“ zugunsten von „Teilkulturen“ erscheint mir allerdings auch nicht als der angeratene Weg, denn dies bedeutete, dass der Begriff „Kultur“ endgültig ad absurdum geführt würde.
Und was ist Kulturgeschichte?
Als Historikerin bin ich vor allem der Kulturgeschichte verpflichtet, der Disziplin also, die sich mit der Erforschung und Darstellung sowohl des geistigen als auch des kulturellen Erbes beschäftigt, das unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Regionen und zu unterschiedlichen Zeiten hervorgebracht haben.
Dies umfasst sowohl Kunst, als auch Sprache, Wissenschaft, Architektur, Brauchtum und in der Tat auch den Alltag von Menschen vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende. Politische Geschichte und auch Staatengeschichte treten in dieser Teildisziplin der Geschichte in den Hintergrund, lassen sich aber nie ganz ausblenden.
Dabei möchte ich mich keiner bestimmten Schule der Kulturgeschichte verschreiben, da jede Fixierung auf eine Schule auch immer eine Einschränkung bedeutet und ggf. dazu führt, dass eigentlich wichtige Aspekte aus einer Betrachtung herausfallen. Im Rahmen von kulturgeschichtlichen Artikeln wird es hier auf „Tour-de-Kultur“ sowohl um die altbekannten Gegenstände der Kulturgeschichte wie Bauwerke, Kunst und Philosophie gehen, als auch um die Bereiche der „Neuen Kulturgeschichte“ wie Symbole und Rituale.
Wer sich nun vielleicht intensiver mit der Diskussion rund um den Begriff “Kultur” auseinandersetzen möchte und Literaturhinweise sucht, dem sei folgender Artikel im Internet empfohlen: https://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/59917/kulturbegriffe?p=all
Und wer lieber eine Präsentation zum Thema Kultur und ihren Facetten anschaut, der sollte mal in diese Seite hineinsehen: https://eu-community.daad.de/uploads/media/was_ist_kultur.pdf
EDIT: Juli 2019
Als Nachklang zur “Kulturwoche” auf diesem Blog habe ich im Juli 2019 einen langen und ausführlichen Artikel mit dem Titel “Kultur – Gedanken, Ideen und Fragen” verfasst, der sich mit zahlreichen Aspekten von Kultur und Kulturgeschichte beschäftigt.
Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen
3 Kommentare
Pingback:
Pingback:
Pingback: