Von flüchtenden Gefangenen und welschen Gästen – #Tischzuchten

Tischzuchten von „Ecbasis captivi“ bis Thomasîn Zerclaere und „Der welsche Gast“.

Begonnen hatte ich die Reihe über Tischzuchten mit einer Passage aus Jesus Sirach, einem apokryphen Buch der Bibel. Von dort aus springen wir nun über tausend Jahre weiter, hinein in das 11. Jahrhundert – ins Mittelalter, in die Zeit der Klöster und Burgen.

Lothringische Tafelfreuden – Ecbasis captivi: Die Flucht des Gefangenen

Hier finden wir eine Dichtung mit dem Titel „Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam“ zu Deutsch: Die Flucht eines Gefangenen, in sinnbildlicher Redeweise. Ein ganz schön langer und irgendwie auch verwirrender Titel und wahrscheinlich wird dieses Werk auch daher meist einfach nur kurz „Ecbasis captivi“ genannt. Zumal in einer der überlieferten Handschriften dann auch noch „topologiam“ steht, was für noch mehr Verwirrung um den Titel sorgt. Aus dem „topologiam“ machte erst Jakob Grimm, der die Handschriften in Brüssel auffand und sie um das Jahr 1838 herausgab, das heute meist zu lesende „tropologiam“.
Die Dichtung jedenfalls entstammt der Welt der Klöster, um genau zu sein der Welt der lothringischen Klöster um Toul gelegen (heute das Département Meurthe et Moselle). Im Text finden sich auch häufig lothringische Orte, was ein zusätzlicher Beleg für den Entstehungsbereich ist. Die Geographie ist also recht eindeutig, weniger eindeutig allerdings ist die genaue Entstehungszeit, weswegen sich die Gelehrten auch seit der Auffindung streiten, ob es denn nun das 10. oder doch eher das 11. Jahrhundert sei, in dem dies Werk verfasst wurde. Der Grund für den Streit ist die Tatsache, dass viele in dieser Fabeldichtung Anspielungen auf für den Erzähler zeitgenössische Ereignisse vermuten und die kann man nun so oder so auslegen. Wen dieser Gelehrtenstreit näher interessiert, der möge hier nachschauen: http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_02041.html.

Jacob Grimm
Jacob Grimm – Fotografie von Franz Hanfstaengl [Public domain], via Wikimedia Commons


Die Geschichte, die diese allegorische Fabel erzählt, handelt von der Flucht eines Kalbes aus seinem Stall. Es wird vom Wolf gefangengenommen und dann vom Fuchs befreit und zwischendrin geht’s auch ums Essen und das Benehmen bei Tisch:

Schüsseln werden getragen, es speist der Gast aus der Ferne.
Trage Vorsorge, dass kein beflecktes Polster, kein beschmutztes Tischtuch
und kein schmutziger Aufwärter die Nase der Speisenden zum Rümpfen bringt;
großen Widerwillen erregt es dem Magen, wenn etwa ein Diener mit fettigen
Händen den Krug gefasst hat, wobei er heimlich probiert,
oder wenn dicker Schmutz am alten Mischkrug haftet.
Einen gepflegten Diener bestelle zum Einschenken der Becher;
auf saubere Tische stelle die reinlichen Speisen,
vorgesetzt werden sollen Nusskerne, am Schaft der Haselsträucher entsprossen.
Pfirsiche nebst Kirschen und Quitten, vermischt mit Erdbeeren,
und geroldingische Äpfel [1], welche die Nachtigall gebracht hat;
die frühreife Traube soll im klaren Quell abgespült werden;
wenn du das Gesottene [2] reichst, soll sogleich auch das Gebratene gereicht werden.

Basilika Aquileia
Die Basilika von Aquileia –
By Alecobbe (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Thomasîn von Zerclaere und „Der welsche Gast“

Aus dem Lothringen des 10. oder 11. Jahrhunderts begeben wir uns nun in den Alpenraum und hinein in das Hochmittelalter, die Zeit der Minne, die Zeit Walthers von der Vogelweide und vor allem die Zeit der mittelhochdeutschen Dichtung.
Hier begegnet uns Thomasîn von Zerclaere oder auch Zirklære, Zirklaria genannt.
Geboren wurde dieser offenbar ausgesprochen gebildete Mann um 1186 im Friaul. Damit war er eindeutig eigentlich romansichsprachig, aber schon im Mittelalter gab es ausreichend Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, ihre Heimat verließen und sich für längere oder kürzere Zeit einfach mal woanders hinbegaben. So offenbar auch unser Thomasin.
Etwa seit dem Jahr 1206 war er Domherr am Hofe des patriarchen von Aquileia – Wolfger von Erla. Dieser Wolfger war zuvor Bischof von Passau gewesen und ein Förderer des berühmten Walthers von der Vogelweide (zu dem wir hier später auch noch kommen werden). Wie diese Geschichte vermuten lässt war Thomasin also umgeben von Menschen, die neben anderen Sprachen auch deutsch, genauer gesagt mittelhochdeutsch sprachen. Dass er diese Sprache in der er sein Lehrgedicht abfasste nicht perfekt beherrschte, das war ihm durchaus klar und dafür entschuldigte er sich auch bereits in den ersten Versen.
Der Welsche Gast“ (Der welhische Gast) – der Gast also, der aus dem angrenzenden eher romanisch geprägten Ausland kommt, der sollte hier von Thomasin belehrt werden. Diese Gäste waren vor allem junge adelige Männer, die zu höfischer Tugend ermahnt werden sollten und zu höfischem Verhalten. So handelt die gesamte Dichtung letztlich von dem, was man bei Hofe braucht. Es handelt von der richtigen höfischen Erziehung, von der nötigen Bildung, von ritterlichen Tugenden, natürlich auch von der damals so wichtigen Minne und auch vom Essen und von Mahlzeiten.
Über den Zeitpunkt der Abfassung des Lehrgedichts sind wir übrigens sehr gut informiert, denn den gibt Thomasin selber an und zwar mit dem Winter 1215-1216; offenbar war es wohl ein kalter Winter und er suchte eine sinnvolle Beschäftigung 😉. Immerhin kamen so nahezu unglaubliche 14.750 Verse zusammen. Ganz schön beachtlich.
Was aber unser Anliegen – die Tischzucht nämlich – angeht, sind es aber zum Glück nicht ganz so viele. Es sind die Verse 471-526, 653-658 und 1941-1946.

Der wälsche Gast
Seite aus „Der wälsche Gast“ (Heidelberger Handschrift CPG 389, fol. 116r, Mitte 13. Jahrhundert)

Ach so und bevor ich es vergesse: Thomasin starb wahrscheinlich (man weiß es nicht so genau) im Jahr 1238 in Aquileia.

Derjenige soll sich am Tisch sehr in Acht nehmen,
der sich richtig benehmen will,
denn dazu gehört sorgfältige Erziehung.
Jeder tüchtige Wirt sorge dafür,
dass alle genug haben.
Der möge so manierlich sein,
dass er so tut,
als wenn er nichts Unpassende wahrnimmt.
Wenn er daran denkt,
mit dem Essen zu beginnen,
so rühre er sein Essen nur mit der Hand an,
das gehört sich so.
Man soll das Brot nicht essen;
bevor die ersten Gerichte gebracht werden.
Man soll sich davor hüten,
dass man das Essen nicht auf beiden Seiten in den Mund schiebt.
Er soll sich davor hüten,
zu trinken und zu sprechen,
wenn er etwas im Mund hat.
Wer mit dem Becher zum Gesellen
sich wendet, wie wenn er ihm zutrinken wolle,
bevor er ihn vom Mund absetzt,
den hat der Wein dazu gebracht.
Wer trinkend über den Becher sieht,
das ist nicht höfisch.
Man soll nicht zu schnell sein,
so dass man seinem Gesellen das wegnimmt,
was einem selbst gefällt,
wenn man selber isst.
Man soll jederzeit essen
mit der Hand, die dem Nachbarn abgewendet ist.
Sitzt dein Geselle zur rechten Hand,
so iss mit der anderen.
Man soll auch vermeiden,
dass man mit beiden Händen isst.
Man soll auch nicht zu schnell sein,
dass man nicht mit dem Gesellen
zur gleichen zeit die Hand in die Schüssel tue,
sondern nur wenn er seine gerade herausnimmt.
Der Wirt soll auch auf Speisen verzichten,
die seine Gäste nicht mögen
und die sie nicht kennen.
Der Wolf isst gern allein,
das Kamel isst nicht allein,
wenn es Wild bei sich sieht.
Dem folgt der Wirt mit Anstand besser als dem Wolf, das sollt ihr wissen.
Der Wirt soll nach dem Essen
das Wasser reichen, das gehört sich so.
Da soll sich kein Knecht
vorher waschen, das ist gut so.
Will sich ein junger Herr waschen,
der soll für sich weggehen
von den Rittern und sich heimlich waschen;
das ist höflich und gut anzusehen.
Wer sich bei Hof will wohl gebärden,
der soll sich zu Hause so benehmen,
dass er nichts Unhöfisches tut.
Denn ihr sollt sicher wissen,
dass Erziehung und höfisches Benehmen
aus der Gewohnheit kommen.
Das Essen hilft dem Leib nicht,
wenn man nicht bei der Sache bleibt.
Der Kranke, der gesund werden will,
der soll nicht ständig
seine Nahrung wechseln, dann wird er bald genesen,
das ist der Rat der Ärzte.

Die älteste überlieferte Version dieses Werkes findet sich übrigens in der Universitätsbibliothek Heidelberg, die inzwischen ein gesamtes Forschungsprojekt rund um dieses Lehrgedicht aufgebaut hat: digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/

[1] Geroldingische Äpfel oder auch Geroldinger sind eine bereits im Capitulare de villis genannte Apfelsorte, die heute als verschollen gilt: http://www.hortipendium.de/Historische_Obstsorten#Apfelsorten
[2] Heute eher ungebräuchliches Wort für „Gekochtes“.

Dr. Anja Kircher-Kannemann
Dr. Anja Kircher-Kannemann

Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen

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