Vom Tischdienen und der Vermahnung an die Kinder – Tischzucht von Johann Wilhelm Simler

Mit Johann Wilhelm Simler und seiner speziell für Kinder gedachten Tischzucht sind wir endgültig so richtig in der Frühen Neuzeit angekommen. Caspar Scheidt war ja bereits ein Vertreter dieser Epoche, genauso wie Wallenstein. Aber während Scheidts Tischzucht eine grobianisch ironische war, galt die auf Betreiben Wallensteins entstandene Tischzucht einzig seinen Offizieren, die mit ihm am erzherzoglichen bzw. kaiserlichen Hof weilten. Die hier vorliegende Tischzucht von Johann Wilhelm Simler jedoch wendet sich an Kinder und damit letztlich auch an deren Eltern, hat also ein deutlich breiteres und auch anderes, nämlich nicht nur adeliges Publikum, im Blick.

Johann Wilhelm Simler – ein Schweizer Theologe, der zum Dichter wird

Geboren wurde Johann Wilhelm Simler am 29. August 1605 in Zürich.[1] Sein Vater Rudolf war Professor und so gehörte die Familie durchaus der gehobenen Bürgerschaft der Stadt an. Über die Kindheit und Jugend Simlers sind wir nicht informiert. Sein Lebensweg erhellt sich erst zu dem Zeitpunkt, wo er begann in seiner Heimatstadt Theologie zu studieren. Von hier aus zog es ihn nach Genf, wo er im Jahr 1627 promovierte.

Nach Beendigung des Studiums zog es den jungen Johann Wilhelm Simler erst einmal ins Ausland. Er reiste nach Paris und nach Sedan. Zwei Jahre war er unterwegs, dann war es wohl genug und er trat seine erste Pfarrstelle an – 1629 in Uetikon. Allzu lange ausgehalten hat er es auch hier nicht und zog weiter nach Herrliberg. Hier fand er zumindest mal in einer Hinsicht sein Glück, nämlich seine Ehefrau, die er 1631 heiratete. Beruflich aber war er irgendwie noch immer nicht angekommen.

Gustav Roethe, einer seiner Biographien schrieb dazu „da er das Predigen nicht vertrug, übernahm er 1638 das Amt eines Zuchtherrn und Inspectors der oberkeitlichen Alumnen im alten Hof zu Zürich und behielt die Leitung dieser theologischen Vorschule 32 Jahre lang bei, obgleich seine Stellung pecuniär wenig befriedigend war.“[2]

Was man sich darunter vorzustellen hat, dass er „das Predigen nicht vertrug“, das überlasse ich an dieser Stelle ihrer Phantasie. Fest jedoch steht, dass die Stellung als Inspektor wohl genau das Richtige für ihn war, sonst wäre er wohl kaum so lange dabeigeblieben und hätte die Stelle erst 1670 bedingt durch sein Alter und eine zunehmende Gichterkrankung aufgegeben.

Knapp zwei Jahre später starb Johann Wilhelm Simler am 14. März 1672 in Zürich.

Der Dichter Johann Wilhelm Simler

Im Grunde hat Johann Wilhelm Simler der Nachwelt nur ein einziges Werk hinterlassen die „Teutschen Getichte“ und dennoch gilt er in der Schweiz als einer der bedeutendsten Dichter der Epoche des Barock, wohingegen er in Deutschland nahezu unbekannt blieb. Den Grund dafür nennt Roethe: „Er war der erste Schweizer Dichter, der sich zu den von Opitz [gemeint ist Martin Opitz (1597-1639)] und der fruchtbringenden Gesellschaft vertretenen metrischen und stilistischen Grundsätzen bekannte; der Localpatriotismus stellte ihn jenen kühnlich zur Seite; daß er in Deutschland wenig bekannt wurde, ergab sich nothwendig aus seiner ausgeprägt schweizerischen Mundart, die den tonangebenden nord- und mitteldeutschen Kreisen genügte, um ihn zum Barbaren zu stempeln.“

Die erste Ausgabe seiner „Teutschen Getichte“ erschien im Jahr 1648 und wurde danach regelmäßig neu aufgelegt und erweitert bis hin zur Ausgabe des Jahres 1688, die als vollständigste Ausgabe gilt. Die Themen seiner Gedichte sind in den meisten Fällen geistliche, aber es gibt eben auch die Lehrgedichte, wie die nachfolgende Tischzucht.

Johann Wilhelm Simler Tischzucht

Kommt her und hört mir zu / ihr / die ihr auß der wiegen
vor siben Jahren schon / ohn muterhülf gestigen /
ich lehre Tischeszucht / ohn die von altem har[3]
des lieben vatters tisch dem kind verbotten war.

Zurüstung des tisches.

So wäsch die hände nun / und dann / zu rechter zeite /
das tischtuch nach der schnur / und eben überspreite:
setz auch den blattenring[4]; wo nicht; an dessen statt /
in mitten auf den tisch das sonnengleiche blatt[5].
Nach rechter ordnung leg die teller und die zwehlen[6] /
die messer auch darzu: es sol kein löffel fehlen:
des saltzes nicht vergiß: des brots bis eyngedenk:
die sideln[7] ruk herbey: die gläser sauber schwenk.
Ist nun / nach landes sitt / der tisch gerüst zum essen /
so werde des gebätts zum Herren nicht vergessen:
die augen / händ und hertz zu ihm heb über sich /
und um den segen ihn demüthiglich ansprich.

Das tischdienen oder aufwarten.

Wenn dann die eltern[8] sich mit speiß und trank erlaben /
und das aufwarten dir für auß[9] befehlen haben /
so stell dich barhaupt dar / auf keinen fuß allein:
kratz / spey und hust beyseits / mags nicht vermitten[10] seyn.
Die händer nicht verberg: gib achtung auf den mangel:
doch gaff den gast nicht an mit offnem maul im angel:
trag auf und ab die speiß / und niemand mit beschmirr:
nicht überfüll zuvil der gästen trinkgeschirr.
Mit ehrenbietung must die follen überreichen /
die lären nemmen ab mit gleichen ehrenzeichen /
und sauber schwenken auß in einem wasser frisch;
auf einmal tragen nur zwo blatten über tisch.
Du solt geleiche speiß gar nicht zusamen stellen /
und fleissig hüten dich die gläser umzufellen:
auch solt du über den / der sitzet oben an /
nichts tragen auf und ab; such einen andern plan.
Vor deme der noch ißt die blatt so lang laß stehen
bis er sie ruket weg / und heisset dich mitgehen:
und wan er brots begert / so bring ihm eilend mehr;
doch nicht in blosser hand; auf einem teller her.

Gebührende zucht über tisch.

Sitzst aber selb zu tisch / bey jungen oder alten /
so solt die füsse still und eng zusamen halten:
die elenbogen dir nicht sollen stützen seyn:
leg auch die arme nicht bis zu denselben eyn.
Zum aufrecht sitzen sol ein junger sich gewehnen /
und mit den achßlen sich nicht ungebürlich lehnen:
kratz nicht auf blossem haupt: lang nicht zum busen eyn:
das nasengrüblen[11] gar laß underwegen seyn.
Beyseits dich wend so du must husten / schnützen / niessen:
das riechen an der speiß wird männiglich verdriessen:
dieselbe solt du nicht beschawen immerdar /
biß auch der letst darin / und schnell von dannen fahr.
Die kost verräuchen laß / um etwas auch erkalten:
des starken blasens dich solt über tisch enthalten:
in eines andern ort auß keiner blatten iß /
vil minder[12] auf den geitz / und dich nicht überfriß.
Es sol dein mund nicht eh den andern bissen fassen /
bis du durch deinen schlund den ersten abgelassen:
so trink auch nicht weil du noch etwas in dem mund /
vil minder red / ja nichts / ohn sonders guten grund.
Mit dreyen fingern faß die fürgesetzten speisen /
das glaß mit einer hand; im trinken solt nicht pfeisen[13]:
die beste bisselein must nicht außklauben dir:
mit wasser misch den wein in deinem trinkgeschirr.
Zu tadlen nicht gedenk die speisen und getränke /
noch auch zu rühmen die: das maul nicht drüber henke:
das / so du hast gekost / leg keinem andern für /
und wirf von dir nichts hin bis zu der stubenthür.
Die speisen / so nicht fisch / must mit dem messer schneiden /
doch im eynschieben must das messer gäntzlich meiden /
dasselb sey ohne schmutz / wann du mit nimmest saltz:
beschmier das tischtuch nicht mit sossen oder schmaltz.
Die finger nicht beschlek; doch must sie underzwüschen;
wann du brot schneiden wilt; mit deiner zwehlen wüschen:
nimm nimmer von dem brot die rinden nur allein:
zerschneid auch nicht zu vil / und laß das hölen seyn.
Du solt auß deinem mund nichts auf den teller legen:
nicht alles essen auf: auch keine blatten fegen /
das angebissen brot nicht widrum tunk hineyn;
noch wie der aff umgaff / und schmatz nicht wie das schwein.
Du solt / den hünden gleich / die beine nicht benagen /
noch wegen ihres marks auf brot und teller schlagen:
saug auch nicht laut daran: nimm aber von dem bein[14]
das fleisch und mark hinweg mit einem mässerlein.
die beine eröffne nicht: diweil es übel stehet
wann darmit über tisch ein junger mensch umgehet:
und / was noch mehr ist hart / mit keinem messer brich /
vil minder beiß es auf mit zänen grimmiglich.
Tunk deinen wein nicht auß / und sürffle nicht im trinken:
ja / schenk dir auch nicht eyn ohn deines vatters winken:
nichts auß dem becher blaß / und trink nicht gar zu gach[15]
mit zwehlen wüsch den mund darvor und auch darnach.
Die zwehlen und das brot / den teller und das messer
richt wie der meiste theil / und ein geschikter esser:
in zähnen grübel nicht mit eysen oder stahl:
vermeid auch allen zorn[16] bey einem freundesmahl.
Mit urlaub[17] / und der erst solt von dem tisch aufstehen /
und / nach dem segenwunsch mit deinem teller gehen:
wäsch deine hände rein; und um die speiß und trank /
sag Gott / mit lauter stimm / von hertzen lob und dank.

Das aufnemmen des tisches.

Wann nun die mahlzeit jetzt ihr endtschafft hat bekommen /
wann ihren abscheid auch die gäste gar genommen /
so nimm alßdann den tisch / nach ordnung / widrum auf /
und nicht / gleich einem berg / das geschirr zusamen hauf.
Die gläser erstlich nimm / und faß sie bey den füssen /
die stümplein[18] solt darauß in eine kannen giessen:
die noch nicht lären geschirr nicht auf einander stell /
zur überblibnen speiß die gröste blatt erwehl.
Das saltz besonder tuh; die löffel all zusamen
auf einen teller leg; die messer auch mit namen:
die kleinern stüklein brot im tischtuch trag hinweg:
das tuch im korb erschütt / und dann zusamen leg.

Vermahnung an die kinder.

Sol nun / o liebes kind! die Tischzucht dich zieren /
so must hierneben auch ein frommes leben führen:
den eltern / lehrern / und fürgesetzten in gemein
im Herren / williglich / und stets gehorsam seyn.[19]


[1] Die ältere Literatur gibt den 6. September als Geburtsdatum an, dies war aber wohl das Taufdatum.
[2] Artikel „Simler, Johann Wilhelm“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 352–353, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Simler,_Johann_Wilhelm&oldid=2492145 (Version vom 28. Februar 2019, 14:26 Uhr UTC)
[3] von alters her
[4] Plattenring: Untersatz für heiße Schüsseln
[5] Platte
[6] Servietten
[7] Sitze; Stühle
[8] gemeint sind hier allgemein „die Älteren“
[9] zuvor
[10] vermieden
[11] Nasenbohren
[12] vermeiden
[13] zischen, pfeifen, blasen
[14] Knochen
[15] hastig
[16] Ungestüm
[17] Erlaubnis
[18] Reste
[19] Text: https://books.google.de/books?id=FUcomtaOrA4C&pg=PA208&lpg=PA208&dq=johann+wilhelm+simler+tischzucht&source=bl&ots=B368damt1_&sig=ACfU3U2RucJk9ckGYSsWPXvKReObpnT-xQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwi9qunT0d7gAhXC1eAKHeZMDvgQ6AEwAnoECAQQAQ#v=onepage&q=johann%20wilhelm%20simler%20tischzucht&f=false
ab Seite 208


Beitragsbild:
Johann Wilhelm Simler “Teutsche Gedichte”
Deckblatt

Dr. Anja Kircher-Kannemann
Dr. Anja Kircher-Kannemann

Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen

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