Wissenschaftler, digitaler Wanderer und ein bisschen Romancier – das Leben als Historiker(In)
Laut Duden ist ein*e Historiker*in eine „Person, die sich wissenschaftlich mit Geschichte befasst“. Eine knappe und irgendwie vereinfachende Definition, die tatsächlich nur einen Teil der alltäglich gelebten Wahrheit abbildet.
Schauen wir also weiter und fragen einmal Wikipedia. Tatsächlich geht man hier bei der Definition schon ein wenig weiter und nimmt einen ganz wichtigen Bereich der alltäglichen Arbeit eines Historikers mit in die einleitende Definition auf: die Darstellung von Geschichte!
Liest man weiter, dann stellt man ganz schnell fest, dass das mit dem Historiker*innen-Sein so seine Probleme und Fragen aufwirft, denn wer ist eigentlich ein*e Historiker*in? War Herodot einer oder Thukydides? Wie sieht es mit Sallust aus oder auch mit Tacitus? Was ist mit den ganzen Menschen im Mittelalter, die Geschichte zusammengetragen und aufgeschrieben haben? Was mit jenen in der Frühen Neuzeit? Kurz gefragt: Kann es Historiker*innen gegeben haben bevor es die Wissenschaft von der Historie gab?
Ein nahezu philosophisches Dilemma, das übrigens zu einer Wortschöpfung führte: „Geschichtsschreiber“, sprich eine Person, die Geschichte aufschreibt. Diese Bezeichnung nimmt (so erweckt es den Anschein) die Wissenschaft aus der Definition heraus.
Aber keine Sorge, das Dilemma geht weiter, denn bis heute ist die Bezeichnung „Historiker*in“ keine rechtlich geschützte Berufsbezeichnung und somit kann sich grundsätzlich einmal jeder Mensch Historiker*in nennen, der oder die schon einmal irgendwas mit Geschichte gemacht hat. Und wenn das auch noch so abstrus in den Ohren der meisten Menschen klingen mag: Die meisten „Historiker*innen“, die mir so in der Lokalpresse und in irgendwelchen Vorträgen irgendwelcher Vereine begegnen sind tatsächlich eben jener letzten Zunft zuzurechnen.
Bezogen auf dieses Problem hilft es auch nicht, dass es einen Berufsverband gibt nämlich den „Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands“. „Beitrittsberechtigt sind“ hier „Lehrer/innen der Geschichte und verwandter Fächer an Hochschulen und Schulen, Mitglieder und Mitarbeiter/innen der historischen Forschungs- und Lehrinstitute, Archivare/rinnen, Bibliothekare/rinnen und Mitarbeiter/innen von Museen sowie Privatpersonen, die ein abgeschlossenes Studium oder literarische Arbeiten dem Gebiet der Geschichtswissenschaft gewidmet haben.“
Haben sie es genau gelesen? Ist Ihnen etwas aufgefallen?
Nicht einmal der Berufsverband besteht nämlich auf einem Studium der Geschichtswissenschaft! (Vielleicht hätte ich das früher wissen sollen.)
Das Dilemma zwischen Fiktion und Wissenschaft
Die Beschäftigung mit der Definition der Berufsbezeichnung „Historiker*in“ und den Aufnahmekriterien in den Berufsverband zeigt deutlich ein großes Dilemma an, das man als Historiker*in so tagtäglich mit sich herumschleppt, denn als nicht-exakte Wissenschaft steht man immer mit einem Fuß in der Fiktion und die hinwiederum widerspricht eigentlich der Wissenschaftlichkeit.
Auf der anderen Seite aber soll und muss man als Historiker*in Geschichte ja auch vermitteln und das ist mit einer trockenen und rein an Quellen und Fachbegriffen orientierten und ausgerichteten Sprache und Methodik irgendwie nicht so richtig möglich, es sei dann man möchte nur seine Fachkolleg*innen bespaßen. Aber da sind wir dann jenseits der Lebenswirklichkeit der meisten Historiker*innen, die nämlich durchaus auch in Kulturinstitutionen arbeiten (wenn auch eher selten) oder eben Bücher schreiben (mit denen man eh im Regelfall kein Geld verdient).
Diese Dilemma ist im Übrigen wohl schon beinahe so alt wie die Wissenschaft von Geschichte und immer gab es solche und solche:
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) an dessen „Herbst des Mittelalters“ kein ernstzunehmender Geschichtsstudent vorbeikommt, behauptete, dass der „wirklich historische Geist“ auf die Gattung des historischen Romans negativ reagiere und das „aus denselben Gründen, aus denen ein Weinkenner gepanschten Wein verabscheut. Er spürt die Verfälschung heraus.“[1]
Doch man kann auch anderer Ansicht sein, denn „Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kommt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist, wie es die fingierten Altertümer zu sein pflegen. Dahin gehört besonders der historische Roman, den so viele Leute für Geschichte lesen, die nur ein wenig arrangiert, aber im wesentlichen wahr sei.“[2]
Soweit Jacob Burchardt (1818-1897) jener Schweizer Kulturhistoriker, der mein Studium so stark geprägt hat und letztlich uns Historiker als Universaldilettanten bezeichnete, womit er (so finde ich) auch voll ins Schwarze traf. Warum? Ganz einfach: als HistorikerIn sollte man nicht nur Kenntnisse über Geschichte haben, sondern vor allem auch über diverse sog. Hilfswissenschaften wie etwa Paläografie, Epigraphik, Diplomatik, Sphragistik, Kodikologie, Numismatik, Heraldik, Genealogie, Chronologie und einige andere. Aber auch in anderen Fachbereichen sollte man zumindest Grundkenntnisse haben, wie z. B. in der Archäologie, der Geographie, der Kunstgeschichte, der Rechtsgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Landwirtschaft und so weiter und so fort. Klar kann man bei einer derartigen Masse an Themengebieten nicht überall zum Fachmann oder zur Fachfrau mutieren, aber Grundkenntnisse sind notwendig und so auch eine positive Form des stets neugierigen Dilettantismus in Abgrenzung zur Ignoranz.[3]
Historiker*in sein im digitalen Zeitalter
Im heutigen Zeitalter kommen noch zahlreiche Kenntnisse und Fertigkeiten für die mit der Geschichte arbeitenden Menschen hinzu an die ein Jacob Burkhardt und auch noch ein Ahasver von Brandt (der große Mann des Werkzeugkastens für Historiker) (1909-1977) wohl nie gedacht hätten.
Wir leben im sogenannten digitalen Zeitalter. Das eröffnet uns eine Reihe bislang ungekannter und vor allem auch ungeahnter Möglichkeiten, gerade was die Recherche betrifft und die Arbeit mit Quellen. Aber das digitale Zeitalter fordert auch neue Fähigkeiten, denn ganz ohne Computerkenntnisse geht es nicht mehr und sei es nur das leidige Word mit dem man sich herumprügelt oder die Suchmaschine, die man nach einer Quelle fragt.
Es ist gleich ein neuer Zweig unserer Wissenschaft von der Geschichte entstanden, die man in guter neuer Tradition als „Digital History“ bezeichnet und die sich nicht nur damit beschäftigt wie man Geschichte in einer digitalen Form darbieten kann, sondern auch mit der Frage was denn wohl in dieser digitalen Zeit so alles eine Quelle ist und was für zukünftige Generationen wie erhalten werden soll und muss.
Eine völlig neue Dimension von Interdisziplinarität entsteht auf diese Weise, denn Historiker*innen alleine können all das gar nicht mehr bewältigen und benötigen mehr und mehr die Mithilfe von Informatiker*innen und Informationswissenschaftler*innen. Die Geisteswissenschaften bewegen sich über ihren Tellerrand hinaus in die Welt der Technik und der anderen Wissenschaften.
Historie als Profession
Historie als Profession, das hat auch, wenn man es pathetisch formulieren mag, immer etwas mit ein wenig Berufung zu tun, denn bis auf wenige Ausnahmefälle ist es eine oftmals brotlose Kunst, die man hier ausübt, so man denn partout Historiker*in bleiben und sein möchte. Das sieht selbst Wikipedia so und schreibt: „Viele Historiker – sofern sie in ihrem eigentlichen Fach arbeiten – wirken als Lehrer an Schulen und an Museen und Archiven, als Journalisten und Fachbuchautoren oder vergleichsweise wenig als Wissenschaftler an Universitäten und Forschungsinstituten. Aufgrund der begrenzten Budgets der öffentlichen Einrichtungen arbeiten etliche Geschichtsabsolventen heutzutage in der Wirtschaft. Dort sind sie vor allem im Marketing und der Unternehmensberatung tätig. Der Einstieg in die Wirtschaft muss aber oft durch Zusatzqualifikationen erreicht werden. Die im Studium erlernten Schlüsselqualifikationen – recherchieren, analysieren und präsentieren – sind hierbei für viele Arbeitgeber von großer Bedeutung […].“
Die digitale Welt liefert meinem Berufsstand da aber zum Glück auch vollkommen neue Möglichkeiten. In einer dieser neuen Möglichkeiten bewegen Sie sich gerade, wenn Sie diesen Beitrag hier lesen. Es gibt nun Blogs, hier kann man als Historiker*in sein Wissen teilen, man kann Geschichte vermitteln und sie darstellen und das ohne einen Verlag zu brauchen, ein Buch herauszubringen oder auch in einem Museum zu arbeiten und eine Ausstellung zu konzipieren. Es geht einfach so vom heimischen Schreibtisch aus oder inzwischen sogar von unterwegs über Smartphone und Tablet.
Schöne neue Welt. Zumindest mal in dieser Hinsicht.
Übrigens gerade in dieser Hinsicht ist wohl der Romancier in dem/der Historiker*in gefragter denn je, denn wollen wir nicht alle gelesen werden? Und egal, ob man es nun modern Storytelling nennt oder aber unmodern Geschichten erzählen: Das Endergebnis ist das gleiche nur werden wir wohl alle nicht wie einer der bekanntesten und einflussreichsten deutschen Historiker belohnt werden. Die Rede ist von Theodor Mommsen, der Ahnherrn einer ganzen Dynastie von Historiker*innen, der im Jahr 1902 den Literaturnobelpreis für seine „Römische Geschichte“ erhielt.
Schön schreiben können war eben doch in allen Zeiten neben der wissenschaftlichen Arbeit und den dazu nötigen Fähigkeiten ein wichtiges Kriterium für den erfolgreichen Historiker.
In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie bis zu diesem Punkt des Textes gekommen sind, denn dann haben Sie 1560 Worte gelesen und die waren offenbar zumindest so gut, dass Sie bis ans Ende gediehen sind.
Ich sage Dank und freue mich auf den nächsten Text, den Sie hoffentlich von mir lesen werden auch wenn ich garantiert keinen Literaturnobelpreis erhalten werde.
[1] Zitiert nach Werner Paravicini: Die Wahrheit der Historiker. München 2009. S. 39.
[2] Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, erläuterte Ausgabe hg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 19.
[3] „Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«
Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muß, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.
In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im ganzen ein roher Geselle.
Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.“ Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Pfullingen 1949, Kapitel 3; 3. Winke für das historische Studium; Online-Ausgabe: Gutenberg-Projekt http://gutenberg.spiegel.de/buch/weltgeschichtliche-betrachtungen-4968/3
Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen
6 Kommentare
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Paul Levi
Interessanter Artikel!
Ich persönlich bin ja der Meinung, eine Dissertation in Geschichte und ähnlichen Fächern ist so etwas wie ein ‚Meisterstück‘, die eigentliche Berufung also der Fach- und Sachbuchautor. Alles andere – Professor, Archivar, Dokumentar etc. – ist optional.