Eine tragische Gestalt, eine unglückliche Liebe und Weltliteratur – 2. #Kulturwoche: Mittwoch
Erinnern Sie sich noch an das Lottehaus, das wir gestern besuchten? – Wir verlassen es nun und gehen ein wenig weiter durch die Stadt. Lotte aber wird uns irgendwie begleiten. Lotte wohlgemerkt, nicht Charlotte Buff, denn die hat mit der folgenden Geschichte eigentlich rein gar nichts zu tun, außer, dass sie – vollkommen ungewollt – irgendwie zur Vorlage für diese Lotte wurde. Wir besuchen das Jerusalemhaus Wetzlar.
Beim Gang durch die Stadt gibt es viel zu sehen, wunderschöne alte Häuser, viele Museen (diese Stadt ist ein Dorado für alle Museums-Fans), kleine Cafés, es wird nicht langweilig und die Augen sind ständig beschäftigt. Die Beine übrigens auch und die sollten tatsächlich halbwegs fit sein, wenn man durch diese Stadt läuft. Das ist der einzige Haken an Wetzlar: für Fußkranke ist es der falsche Ort, denn es geht ständig bergauf und bergab und das zum Teil auch reichlich steil. – Wer weiß, vielleicht mochte der gute Herr Goethe die Stadt ja auch deshalb nicht, vielleicht waren die Fußmärsche ihm schlicht zu anstrengend in dieser Stadt. Verstehen könnte ich es irgendwie, auch wenn er ja noch reichlich jung war, als er einst hier lebte und seine Generation viel eher ans Laufen gewöhnt war als ich Schreibtischtäterin.
Aber lassen Sie uns eben noch an unser heutiges Ziel laufen, vorbei am Palais Papius, das eine Sammlung von Wohnkultur aus Renaissance und Barock beherbergt und am Reichskammergerichtsmuseum.
Ja, wir hätten auch hier schon anhalten können und uns diese Museen anschauen, aber wir wandeln auf Goethes Spuren und außerdem haben wir Lotte dabei, also gehen wir noch ein ganz kleines Stück und stehen vor einem Fachwerkhaus. Es sieht aus wie viele andere Fachwerkhäuser dieser Stadt. Es fällt nicht wirklich auf und dennoch ist es ganz besonders.
Ein Besuch im Jerusalemhaus in Wetzlar
Das Fachwerkhaus mit seinem rötlichen Ständerwerk, vor dem wir stehen, ist das Jerusalemhaus. Hier einzutreten ist nicht ganz so einfach wie beim Lottehaus. Man ist nicht so ganz auf Besucher eingestellt, wenn man auch ausgesprochen gastfreundlich ist. Lassen Sie sich nicht irritieren, wenn die Tür verschlossen ist, obwohl das Haus offiziell geöffnet ist. Klingeln Sie einfach, man wird Ihnen auftun und eine freundliche Stimme wird sagen: „Kommen Sie bitte nach oben.“
Wir sind in Wetzlars kleinstem Museum gelandet und in Sachen „Kleinheit“ könnte dieses Museum sicherlich auch international durchaus Preise gewinnen. Gerade einmal zwei kleine Räume gibt es. Die aber haben es in sich, denn in ihnen ist Geschichte geschrieben worden. Es war sogar Weltgeschichte, die geschrieben wurde, literaturhistorisch betrachtet zumindest, wenn dies auch sicherlich nicht geplant war.
Ein netter Herr hat uns in Empfang genommen und geleitet uns
in diese beiden so besonderen Räume. Es ist die ehemalige Wohnung des Karl
Wilhelm Jerusalem.
Vielleicht sagt Ihnen der Name nicht sofort etwas, obwohl der junge Mann, der
nur 25 Jahre alt wurde, die Hauptfigur eines der wohl erfolgreichsten Bücher
der Weltgeschichte wurde.
Bekannt wurde Karl Wilhelm Jerusalem als ‚Werther‘. Ja, richtig: Goethes „Leiden
des jungen Werthers“.
Von Karl Wilhelm Jerusalem zu „Werther“
Wie der junge Herr Jerusalem zum Werther wurde, fragen Sie?
Nun, Johann Wolfgang Goethe und Karl Wilhelm Jerusalem kannten sich. Beide
arbeiteten in Wetzlar am Reichskammergericht. Gemocht haben sie sich wohl nicht
oder vielleicht war es auch eine ausgesprochen ambivalente Gefühlslage, die sie
verband; Anerkennung gemischt mit Ablehnung. Wer weiß es schon.
Während der junge Goethe sich in Wetzlar nur ein wenig
unglücklich in die junge Charlotte verliebte, die wir gestern besucht haben, verliebte
sich der junge Jerusalem sehr unglücklich. Dummerweise verliebte er sich auch
noch in eine verheiratete Frau! Das konnte nicht gut gehen, vor allem nicht,
als die dies ihrem Ehemann erzählte, der – noch dümmererweise – auch noch
reichlich viel Einfluss hatte. Jerusalem war eh nicht besonders beliebt und die
erhoffte Karriere am Reichskammergericht in weite ferne gerückt und nun auch
noch dieser Skandal. – Man kann verstehen, dass Jerusalem nach all dem nur noch
wenig Chancen für seine Zukunft sah.
Heute würde er vielleicht in eine Psychotherapie gehen oder schlichtweg
auswandern. Damals aber sah er keinen anderen Ausweg als sich zu erschießen. Das
tat er. In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772 versuchte er seinem Leben
ein Ende zu machen und schoss sich in den Kopf. Er war nicht gleich tot. Einige
Freunde konnten noch von ihm Abschied nehmen, aber der herbeigerufene Arzt
konnte nichts mehr für ihn tun.
Diese tragische Geschichte und die unglückliche Verliebtheit zu Charlotte Buff waren es, die Goethe zu den „Leiden des jungen Werthers“ inspirierten, die zwei Jahre später auf der Michaelismesse in Leipzig erstmals dem Publikum vorgestellt wurden.
Seither gilt dieses Buch als Schlüsselroman einer ganzen Epoche und soll für unzählbare Selbstmorde unglücklich Verliebter verantwortlich sein.
Das Jerusalemhaus in Wetzlar
Der nette Herr übrigens, der uns in Empfang genommen hat, zeigt uns die beiden Räume, in denen Jerusalem gelebt hat und gestorben ist. Er erzählt uns die Geschichte Jerusalems, die Geschichte des Briefromans von Goethe, die Geschichte von Charlotte und viele kleine Geschichten drumherum. Wir sehen den Schreibtisch an dem Jerusalem saß, als er sich erschoss, das aufgeschlagene Buch, das Bett, das zum Sterbebett wurde.
Und wir sehen, dass Karl Wilhelm Jerusalem durchaus nicht als einer der berühmtesten Selbstmörder in die Weltgeschichte hätte eingehen müssen. Er hätte auch ein wichtiger Philosoph werden können, aber das ist eine andere Geschichte.
So klein wie dieses Museum ist, so beeindruckend ist es und man verlässt nachdenklich und auch bewegt.
Beitragsbild:
Jerusalemhaus Wetzlar
Foto: A. Kircher-Kannemann, CC-by SA 4.0
Promovierte Historikerin, Autorin, Kulturvermittlerin und Bloggerin.
Themen: digitale Kulturvermittlung – #digKV – Social Media – Storytelling – Geschichte(n) erzählen
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